Juan Carlos Onetti


Während der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurde die lateinamerikanische Literatur auch von den Kritik-Koryphäen  der Ersten Welt entdeckt. In der Folge erreichten Bücher von Autoren, die zwischen dem Río Grande und Feuerland lebten, auch in den USA und Europa hohe Auflagen, und einige Nobelpreise gingen an kreolische Dichter und Schriftsteller. Nicht wenige der neuen Stars am Prosa-Himmel aber nannten als einen oder sogar den Wegbereiter für das eigene Schaffen einen Mann aus Uruguay, der sich von den globalen Modeströmungen fernhielt, aber auch eine sehr distanzierte Beziehung zur wichtigsten literarischen Richtung des eigenen Subkontinents, dem Magischen Realismus, pflegte.


Immigrantenländer


Die ersten Einwanderer kamen in Rüstung und mit dem Schwert ins heutige Lateinamerika: spanische Konquistadoren auf der Suche nach Gold und Land sowie portugiesische Eroberer, die ihrem Königreich Handelsstützpunkte erschlossen. In den meisten Regionen des Subkontinents kam es (unfreiwillig auf der einen Seite, aus Kolonistensicht hingegen eher fahrlässig) zu einer Vermischung der indigenen Bevölkerung mit den Okkupanten, woraus sich eine gegenseitige kulturelle Befruchtung entwickelte, die trotz der iberischen Dominanz etliche Elemente indianischer (und etwas später afrikanischer) Geisteswelt in Kunst und Literatur weiterwirken ließ.


Drei Länder ganz im Süden aber blieben aufgrund weiterer Migrationswellen im 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein ethnisch und kunstgeschichtlich stärker von der Alten Welt geprägt: Millionen von armen Italienern und Spaniern suchten notgedrungen ihr Glück in Argentinien, Chile und Uruguay. Deutsche und Schweizer stießen bis nach Nord-Patagonien und an die Pazifikküste, etwa nach Santiago und Valparaiso, vor, hunderttausende Waliser und Schotten siedelten sich als Schafzüchter in den südlichen Pampas an, Polen und Juden ließen sich später in Montevideo und Buenos Aires nieder, in Metropolen, die ihnen wegen der Vergleichbarkeit mit Städten, die sie verlassen oder auf der Flucht durchstreift hatten, nicht ganz so fremd vorkamen.


Die traditionellen Bindungen an die einstige Heimat bestimmen bis heute die Rezeption von Literatur und beeinflussen Sujets und Stil vieler Autoren der drei Länder. So entstanden dort oft Romane und Erzählungen, die in irgendeinem europäischen Sprachstil lateinamerikanische Sujets thematisierten und sie mit folkloristischem Brimborium umgaben. Dann kam Juan Carlos Onetti und mit ihm eine neue Prosa, die, zunächst „auf den Schultern“ vor allem angelsächsischer Autoren, dann aber in freiem Höhenflug, autarke Werke kreierte. Der Uruguayer beschrieb das Geschehen im beiläufig wirkenden Drive eines Krimi-Autors vom Schlage Raymond Chandlers, ohne ins Gangster-Genre abzugleiten. Er  ließ den inneren Monolog seiner seltsam sturen Protagonisten – anders  als Joyce im „Ulysses“ – in Taten transzendieren und in Realität gerinnen. Er siedelte die Handlung in einer fiktiven urbanen Landschaft mit nie dagewesenen Eigenheiten und Merkwürdigkeiten an. Sein 1950 erschienener Roman „Das kurze Leben“ markiert laut Vargas Llosa den Beginn der literarischen Moderne in Lateinamerika.

    

Ein Weltenschöpfer namens Brausen


Später sollten García Márquez, Fuentes oder Rulfo, die großen Erzähler des Magischen Realismus, Onetti als den Pionier, der ihnen den Weg gewiesen habe, bezeichnen. Doch im Gegensatz zu ihnen bezog der Mann aus Montevideo den Stoff seiner Romane nicht aus einem indigenen oder kreolischen Kulturkreis. Was aber die damals jungen Autoren faszinierte, war die Genialität, mit der er seinen handelnden Personen eine ihnen adäquate autonome Welt, quasi einen Parallel-Kosmos, schuf.


Im Deutschlandfunk sagte der Kritiker Helmut Böttiger 2005: „Onettis magischer Realismus ist deshalb so magisch, weil er die menschliche Wahrnehmung in allen, ungewohnten Einzelheiten auslotet und dadurch eine Welt umreißt, die zunächst vertraut erscheint, aber allmählich immer diffuser und rätselhafter wird.“ Böttigers Beobachtung, der Autor lote die Situationen derart minutiös aus, dass die normalen Dinge des Lebens sich in kryptische Facetten zerlegen, ist zutreffend. Etwas problematisch ist die Zuordnung „magischer Realismus“, denn bei Onetti ist alles realistisch, beinahe akribisch beschrieben, nichts grenzt in der äußeren Welt an das Wunderbare, Magische. Für die mythologische Fabulierkunst und die tropengesättigte Phantasie eines García Márquez oder eines Angel Asturias bleibt da kein Raum.


Natürlich kam auch Onettis Imagination nicht aus einem kreativen Vakuum, einem Nichts ohne literarische Vergangenheit sozusagen. Der als bescheiden, fast schüchtern wirkende Kettenraucher benannte den nordamerikanischen Kollegen, der ihm Impulsgeber und stilistischer Mentor war, in beinahe devoter Manier: „Alle sind sich einig, dass mein Werk nichts als ein langes, zähes, manchmal unerklärliches Plagiat Faulkners ist.“ Der Uruguayer stellte sein Licht allzu tief unter den Scheffel. Zwar diente William Faulkners geografisches Phantasiegebilde, der Yoknapatawpha-Distrikt, Onetti als Anregung zu seiner fiktiven Stadt Santa María irgendwo im argentinischen Grenzland, durch einen Strom von seiner Heimat getrennt, so wie diese Erfindung auch García Márquez zum kolumbianischen Schimärenort Macondo und den Mexikaner Juan Rulfo  zur phantasmagorischen Umgestaltung des Dorfes Comala motivierte; und  die manische Beharrlichkeit und das schräge Ethos der Bewohner von Santa María erinnert ebenfalls an die charakterliche Unbeweglichkeit der Südstaaten-Gentry in Faulkners Mississippi-Kaff.


Doch schon die Entstehung der autochthonen Miniaturwelten geht höchst unterschiedlich vor sich: Bei Onetti ist nicht der Autor der Schöpfer, als Demiurg tritt vielmehr eine seine Figuren, der von Kündigung bedrohte, vor dem Ende seiner Ehe stehende Werbetexter Brausen, auf. In seiner ausweglosen Lage imaginiert Brausen einerseits den Ort Santa María, der mal als verschlafener Fleck, mal als boomende Provinzmetropole, dann wieder als verrotteter Hafen fungiert und dessen seltsames Personal später in etlichen anderen Romanen und Erzählungen Onettis agieren sollte, zum anderen erfindet er als Alter Ego mit sadistischen Zügen einen Gelegenheitsluden namens Arce, der von einer Prostituierten, die in Buenos Aires das Nachbarappartement bewohnt, auf fatale Weise profitieren will.


Die einzige Konstante in dem sich von Buch zu Buch ändernden Santa María ist die Existenz des Arztes Díaz Grey, der in „Das kurze Leben“ als stoischer Begleiter, platonischer Liebhaber und widerwilliger Drogenbeschaffer von Elena auftritt, die ihrerseits einem mysteriösen Engländer nachjagt. In anderen Romanen ist seine Praxis der Ruhepunkt oder Beichtstuhl für die getriebenen Gestalten, von denen einige im vollen Bewusstsein ihres Irrtums ihren Irrweg unbeirrbar zu Ende gehen.


Leichensammler und andere Hoffnungslose


Da ist in „Abschiede“ der einstige Spitzensportler, der seine Tuberkulose in der Sierra auskurieren soll, sich aber medizinischer Rehabilitation verweigert, weil er die Krankheit und die damit verbundene Schwäche seines Körpers nicht wahrhaben und nicht akzeptieren will. Da ist der ehemalige Kommissar Medina, der in Santa María den Polizeidienst quittiert hat, über den Fluss gewechselt ist und nun in dem Nest Lavanda vor sich hin vegetiert, wo er von seiner Gönnerin Frieda ausgehalten und bisweilen zu Gelegenheitstätigkeiten eingeteilt wird. Von all diesen Männern, die ihre Perspektivlosigkeit erkennen, ihr mit kruden Strategien begegnen und ihr Scheitern bis zum Schluss ausleben, als sei dies ihre Pflicht, ist Larson alias Leichensammler der wohl am schärfsten konturierte.


In dem 1991 erschienenen Roman „Die Werft“ kehrt Larsen nach fünf Jahren nach Santa María, in den Ort, aus dem er nach seinem erstmaligen Versagen vertrieben worden ist, zurück und stürzt sich in das nächste hoffnungslose Projekt. Er wird von einem Bankrotteur aus dem verblichenem Gesellschaftsadel als Geschäftsführer eines verrosteten Reparaturwerks, das kein Schiff mehr anläuft und das nur noch Plünderern und Hehlern zur Ausschlachtung dient, angestellt. Larsen macht sich keine Illusionen, auch wenn die debile Tochter des abgehalfterten Granden, der ihm ein hohes Gehalt verspricht, aber nie auszahlt, vermeintlich zur Heirat bereitsteht. Fatalistisch und unermüdlich geht er auf dem Schrottplatz, der sein Reich sinnloser Arbeit ist, dem Ruin entgegen – hier lässt sich ein Hauch Kafka in modernem Gewand ausmachen.


Die Vorgeschichte wird in dem erst drei Jahre später veröffentlichten Roman „Leichensammler“ deutlich: Larson kommt mit ein paar abgetakelten Huren, die ihm seinen Spitznamen eingetragen haben, nach Santa María, um dort das „perfekte Bordell“ zu gründen. Das Vorhaben spaltet die Bewohner der Stadt, der Versuch einer Initiation im „professionellen Milieu“ führt letztlich zu einem Selbstmord, und der Zuhälter muss mitsamt seinen „Mädchen“ Santa María verlassen.

   

Der unscheinbare Superstar


Trotz einer Suhrkamp-Gesamtausgabe ist Juan Carlos Onetti in Deutschland eher ein Geheimtipp geblieben. International aber wurde er als einer der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts anerkannt. Der Uruguayer, der auch als Journalist und Bibliothekar gearbeitet hatte, beeinflusste nicht nur Kollegen in Lateinamerika, sondern auch Existenzialisten und Schriftsteller der Nouvelle Vague in Frankreich. Er wurde lange als Anwärter des Literaturnobelpreises gehandelt und u. a. mit dem Premio Cervantes, der höchsten Auszeichnung für Autoren in der spanischsprachigen Welt, ausgezeichnet.


Dass Onetti hierzulande weniger bekannt und beliebt ist als etwa ein García Márquez, dürfte auf seinem eigenwilligen, schwerer zugänglichen Stil beruhen. Er schrieb weniger flamboyant, eher nüchtern und lakonisch, und sein literarisches Universum hat weniger Farben und Facetten als das des Kolumbianers, aber es ist in der psychologischen Zeichnung rätselhafter und beinhaltet kompliziertere Charaktere. Vielleicht erschwert letzteres auch Europäern den Zugang zu Onettis Werk. Sie ergeben sich gerne der exotischen Fabuliergewalt anderer Lateinamerikaner, und fühlen sich dann von seiner messerscharf präzisen Sprache in ihrer Erwartungshaltung getäuscht.


Abgesehen von dem Roman „Für diese Nacht“ (1943), der sich auf das bittere Ende des Spanischen Bürgerkriegs bezieht, finden sich in Onettis Prosa keine offensichtlichen politischen Ansätze. Auch wenn der Autor ein Linker war, der 1936 nach dem Franco-Putsch in Spanien als Freiwilliger auf  Seiten der Republikaner kämpfen wollte, hielt er Propaganda nicht für eine Aufgabe der Literatur. Als sich 1974 das Militär mit US-Hilfe in Montevideo an die Macht putschte, landete er dennoch für drei Monate im Gefängnis. Als Mitglied einer Jury hatte er für den regimekritischen Schriftsteller Nelson Marra votiert. Zudem war den beleseneren unter den Junta-Offizieren wohl aufgefallen, dass die die Werft im gleichnamigen Roman, abgewirtschaftet und ausgeweidet, wie sie dargestellt wird, den Bankrott des ganzen Landes und seiner herrschenden Klasse widerspiegelte.


Nach seiner Freilassung verließ Juan Carlos Onetti umgehend seine Heimat Uruguay, um nie mehr zurückzukehren. Zwanzig Jahre später starb er mit 84 Jahren in seinem madrilenischen Exil.

       

01/2019

 

Dazu auch:                         

Carlos Fuentes, Miguel Angel Asturias und Juan Rulfo im Archiv dieser Rubrik