John Williams


Vor hundert Jahren wurde im texanischen Clarksville ein Mann geboren, für dessen literarisches Schaffen sich zu seinen Lebzeiten kaum jemand interessierte. Fast zwanzig Jahre nach dem Tod von John Williams im März 1994 wurde sein vom Umfang her überschaubares, aber erstaunlich vielfältiges Oeuvre (wieder)entdeckt, und erst 2013 erschien erstmals eine deutsche Übersetzung seines wohl bedeutendsten Romans, der mittlerweile als eines der unumstrittenen Meisterwerke der klassischen nordamerikanischen Moderne gilt.


Ein erfülltes unglückliches Leben


Mit ziemlicher Sicherheit wäre John Williams heute vergessen, hätte nicht der Autor und Kunsthistoriker Edwin Frank 1999 die Reihe „New York Book Review Classics“ gegründet und den Roman „Stoner“, der bereits 1965 erstmals erschienen war und damals in der Publikumsgunst floppte, erneut veröffentlicht. Offenbar war die Zeit nun reif, denn die literarische Welt wurde endlich aufmerksam auf den Mann, dessen schmales Werk eine inhaltliche Bandbreite und stilistische Vollendung sondergleichen aufwies. Zuvor lagen seine Bücher wie Blei in den Regalen, obwohl er doch für seinen letzten (vollendeten) Roman „Augustus“ 1973 einen geteilten „National Book Award“ für Belletristik erhalten hatte. Nun aber betitelte der Literaten-Biograph Charles Shields sein Williams-Porträt überschwänglich, doch nicht ohne jeden Grund „Der Mann, der den perfekten Roman schrieb“.


In der Tat ist „Stoner“, die unspektakuläre Geschichte vom linkischen, aber intelligenten Landjungen William, der von früher Kindheit an auf dem elterlichen Hof schuftet und nun „etwas Nützliches“, also Agrarwissenschaft, studieren soll, aber auf der University of Missouri der Literatur verfällt, als er einen Dozenten Shakespeares 73. Sonett rezitieren hört. Die Passion für Sprache und Dichtkunst verändert seinen Lebensweg radikal und wird bis zum Tod anhalten. Stoner wirft das Landwirtschaftsstudium hin, macht seinen Doktor der Philosophie und lehrt nun selbst englische Literatur auf dem College.


Leben und Karriere des William Stoner scheinen nicht allzu glücklich zu verlaufen: Seine Ehe erweist sich als folgenschweres Missverständnis zweier Menschen, die sich nichts zu sagen haben; die Rekrutierung zum Zweiten Weltkrieg beraubt ihn, der sich der Armee verweigert, seiner geistigen Verbündeten; eine kurze, doch intensive Beziehung zu einer Studentin beenden die gesellschaftlichen Konventionen und Moralvorstellungen jäh; er wird zum hilflosen Opfer kollegialer Intrigen. Am Ende weiß Stoner, dass von seiner Arbeit nichts bleiben und sein Name bald vergessen sein wird. Und dennoch ist er mit sich selbst im Reinen, denn er ist den Weg gegangen, den ihm seine tiefe Liebe zur Literatur gewiesen hat.


Was diesen Roman so bemerkenswert macht, sind einmal die Kompromisslosigkeit, die Ehrlichkeit und die auf wissenschaftlicher Integrität fußende Sturheit  des Protagonisten und zum andern die klare Sprache und differenzierte Personenzeichnung seines Autors. An „Stoner“ ist nichts sensationell, bizarr, auf Action oder Suspense gebürstet. Aber eine geradlinige Geschichte stringent und ohne Effekthascherei zu erzählen, gehört zu den schwierigsten Übungen eines Schriftstellers.


Williams hat für seine Titelfigur Teile der eigenen Vita adaptiert. Er wuchs im ländlichen Nordost-Texas auf, der Stiefvater arbeitete als Hausmeister bei der Post, seine Großeltern waren arme Kleinbauern. Wie Stoner unterrichtete er eine Zeit lang an der Universität in Missouri, ehe er in Denver „Englische Literatur“ sowie – als akademischer Pionier - „Kreatives Schreiben“ lehrte. Und wie sein Protagonist ahnte er wohl, dass er und sein Werk nach dem Tod vergessen würden – was in seinem Fall erst Jahrzehnte später korrigiert werden sollte. Der englische Autor Julian Barnes nannte „Stoner“ einen „phantastischen Roman von wiederhallender Traurigkeit“.


Die Plünderung des weiten Landes


Fünf Jahre vor „Stoner“ war Williams‘ zweiter Roman 1960 erschienen. „Butcher’s Crossing“ (dankenswerterweise erschienen beide deutsche Übersetzungen unter den englischen Originaltiteln) könnte vom Sujet und der Szenerie her kaum weiter entfernt vom Gelehrtenporträt angesiedelt sein. Doch auch er verkaufte sich schlecht und erhielt miese Rezensionen. In „Stoners“ Gefolge wurde aber auch er in den frühen 2000er Jahren zum Bestseller.


In dem Städtchen mit dem titelgebenden Namen kommen Abenteurer, Neusiedler und Büffeljäger zusammen, um in den Gebirgen und Prärien des Westens ihr Glück zu suchen. Der junge Will Andrews schließt sich einem illustren Trupp an, der unter Führung des erfahrenen Trappers Miller eine der letzten großen Bisonherden in Colorado aufspüren will.


Nach etlichen Irrungen finden sie die Büffel und schießen sie ausnahmslos nieder. Millers Gier, auch noch die letzte der kostbaren Häute zu erbeuten, ist so unbezähmbar, dass sie sich verspäten und vom Schnee überrascht werden. Es gelingt ihnen zu überwintern, doch als sie dezimiert im Frühjahr mit der Fracht, die sie reich machen soll, nach Butcher’s Crossing zurückkehren, müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass sich die Welt verändert hat und ihre Geschäftsgrundlage weggebrochen ist.


Der Roman ist ein Spätwestern, thematisch denen von Cormack McCarthy ähnlich in seiner Beschreibung der menschenfeindlichen Landschaften und der skrupellosen Entschlossenheit der Männer, die ihr Leben riskieren, um der Natur alles abzupressen, was sich versilbern lässt, die für Zivilisation und Umsicht verloren sind. Doch während McCarthys Bücher häufig in Gewaltorgien gipfeln, aber trotz des vorherrschenden Pessimismus immer wieder einzelne Handelnde empathische Züge entwickeln, schildert Williams in durchgehend lakonischem Ton, wie seine Protagonisten ohne eine Spur von Zweifel die Ausrottung der Bisons in mechanischer Perfektion bewerkstelligen. Die hier beschriebene rohe Bedenkenlosigkeit, mit der das Land damals von den weißen „Pionieren“ geplündert wurde, lässt sich als Ahnung einer weitaus raffinierteren und vollständigeren Zerstörung der Ressourcen deuten, nur dass es heute nicht mehr nur um eine Handvoll Dollar geht – in den USA und anderswo…


Menschsein und Kaiserwerden


Wiederum nicht das Geringste gemein mit „Stoner“ oder „Butcher’s Crossing“ hat der vierte (und dritte bedeutende) Roman von John Williams, „Augustus“, der 1971 veröffentlicht wurde und sein letztes fertiggestelltes Buch bleiben sollte. Es handelt sich um eine Art fiktiver Biographie des römischen Kaisers Augustus (63 v. Chr. - 14 n. Chr.), rekonstruiert aus den unterschiedlichsten Korrespondenzen und Tagebuchfragmenten. Sowohl der Imperator selbst als auch zeitgenössische Politiker, Dichter, Philosophen und Mitglieder der kaiserlichen Familie kommen in den Briefwechseln dieses historischen Romans zu Wort.


Der Leser kann den Aufstieg des von Gaius Julius Caesar geförderten jungen Octavianus zum gottgleichen Herrscher verfolgen, die Intrigen und Niederlagen des Cicero und des Brutus, das Zweckbündnis des späteren Augustus mit Marcus Antonius, den er später zusammen mit dessen Geliebter Cleopatra abserviert, die Umsicht, mit der das Reich vergrößert wird, und die List, mit der Hindernisse und unbotmäßige Menschen auf dem Weg zur absoluten Macht beseitigt werden. Natürlich könnte man das alles auch in einem akribisch zusammengestellten Geschichtsbuch nachlesen, doch Williams spiegelt Vorhaben und Machenschaften in den Gedanken außenstehender Beobachter wider, lässt Opfer und Unterstützer über den oftmals skrupellosen Erfolgsweg eines einst integren Mannes reflektieren.


Augustus war kein Unmensch wie etwa Tiberius, dessen Thronfolge er am Ende nicht verhindern kann, aber der Wille, die errungene Macht mit allen Mitteln zu verteidigen, lässt ihn unmenschlich handeln, auch gegen die eigene Frau oder Tochter. Dem politischen Kalkül hat sich jede humane Regung unterzuordnen, was Augustus selbst erkennt und bisweilen bedauert, etwa, wenn er sich nach der einstigen Freundschaft mit Dichtern oder Jugendgefährten zurücksehnt.


John Williams‘ „Augustus“ mag historisch nicht völlig exakt sein, wie der Autor in einer Vorbemerkung eingesteht, aber der Roman ist eine hochintelligente Studie der unvermeidlichen Korrumpierung auch des zunächst wohlmeinenden Akteurs durch die Macht.


Autorenschicksal


John Williams‘ Prosawerk umfasst nur vier Romane und ein Fragment („The Sleep of Reason“), das wegen einer schweren Lungenkrankheit und seinen Alkoholproblemen unvollendet blieb. Vom Erstling „Nothing but the Night“, den er während seines Kriegseinsatzes in Burma geschrieben hatte, distanzierte er sich, weswegen das Buch hier aus Respekt vor dem Autor unberücksichtigt bleibt.


Williams galt als hervorragender College-Professor und mittelmäßiger Lyriker – als Autor von drei in ihrer beinahe exotischen Themendiversität und sprachlichen Präzision einzigartigen Romanen blieb er zu Lebzeiten weitgehend unbeachtet. Es ist über die Epochen hinweg das Dilemma großer Schriftsteller, dass sie den Geschmack der Lektoren oder den gerade für die Leserschaft aktuellen Trend nicht bedienen. Auch Joyce musste etliche Jahre warten, bis seine „Dubliners“ überhaupt veröffentlicht wurden.


Einige biographische Parallelen zu seiner Titelfigur Stoner lassen sich im Leben des John Williams finden: Beide stammten aus armen ländlichen Verhältnissen, lehrten am selben College in Missouri, waren gleichermaßen überzeugt von ihrer literarischen Mission und ähnlich erfolglos. Damit enden aber die Gemeinsamkeiten. Williams wusste, wie gut er war, und dürfte unter der öffentlichen Gleichgültigkeit seinen Büchern gegenüber gelitten haben – wie auch sein Alkoholismus nahelegt. Stoner begnügte sich mit einer gescheiterten Ehe, Williams heiratete noch dreimal (und hatte mit seiner dritten Frau drei Kinder).


Über seine Figur schrieb der Schriftsteller einst: „Viele Leute, die den Roman gelesen haben, denken, dass Stoner so ein trauriges und schlechtes Leben hatte. Ich glaube, er hatte ein sehr gutes Leben. … Er hat getan, was er tun wollte, er hatte ein Gefühl für das, was er tat…“ Man darf bezweifeln, dass Williams sich selbst im Sinne von Camus („Der Mythos des Sisyphos“) als „einen glücklichen Menschen vorstellen“ konnte, aber er hat der Nachwelt gut tausend Romanseiten für die literarische Ewigkeit hinterlassen.


10/2022